BeReal – die ungefilterte Wahrheit
Doppelkinn und ausgefallene Grimassen – nicht unbedingt die klassischen Bilder, die wir auf Social-Media erwarten. Die neue Trend-App BeReal möchte mit wenig Zeit und ohne Filter für mehr Wahrheit in den sozialen Medien sorgen. Doch hält die App, was sie verspricht?
@canva
Die App – BeReal!
Zwei Minuten Zeit für ein Bild ohne Schminke und Beauty-Filter. In einer Welt, in der Instagram-Schönheitsideale und fragliche TikTok-Trends den Alltag bestimmen, sticht die App BeReal ziemlich aus der Masse heraus.
Das Konzept der neuen Trendapp ist ziemlich simpel: Nutzer:innen erhalten zu einer scheinbar willkürlichen Tageszeit eine Appbenachrichtigung, in der sie dazu aufgerufen werden an Ort und Stelle ein neues BeReal zu posten. Dann erhalten sie ein Zeitfenster von zwei Minuten, um gleichzeitig ein Foto mit der Vorder- und Rückkamera aufzunehmen. Anschließend fügt die App die Bilder zusammen und stellt somit sicher, dass User:innen, ganz ohne Filter, echte Einblicke in ihren Alltag geben. Erst wenn das Bild auf der Plattform geteilt wird, könne die Postings der befreundeten Benutzer:innen angeschaut werden. Fotos von Nutzer:innen, die das kurze Zeitfenster verpassen oder innerhalb der zwei Minuten mehrere Anläufe für ihren Schnappschuss verwenden, werden außerdem entsprechend gekennzeichnet. Mit ihrer Spontanität erwischt die App ihre User:innen in den unterschiedlichsten Momenten und möchte so für mehr Realität im Internet sorgen.
Doch wie sieht eine App ohne Filter, Likes und Algorithmus aus? Kann eine App tatsächlich für mehr Realität in den sozialen Medien sorgen? Ich habe mich der App gestellt und in einem Selbsttest versucht Antworten auf diese Fragen zu finden.
Der Selbstversuch
Zeitdruck, völlig spontan erreicht mich um 22:34 Uhr die Meldung, dass mein erstes BeReal ansteht. Ich öffne die App, in der Mitte läuft ein Timer runter. Mir bleiben also genau zwei Minuten Zeit, um mir einen spannenden Ort in meinem Zimmer auszusuchen, vor dem ich posieren könnte. Doch ich habe ein Problem: denn aktuell mache ich gar nichts. Ich liege einfach nur auf meinem Bett und scrolle durch Handynachrichten, aber meinen Freund:innen in den sozialen Netzwerken kann ich das nur schlecht erklären, sonst denken die noch ich wäre langweilig. Auf dem Bildschirm wird die Zeit von Sekunde zu Sekunde immer weniger und nähert sich langsam der Eine-Minute-Marke. Notgedrungen öffne ich schließlich meinen Laptop. Kurze Zeit später sind sich meine Follower:innen auf BeReal sicher, am Mittwochabend habe ich einen Film geschaut.
„Be Real!“. In den ersten Tagen meines Selbstversuches musste ich vor allem lernen mit dem Ausruf der App zurechtzukommen. Als Vielnutzerin jeglicher sozialen Apps und als waschechter Digital Native fiel mir das Echt-Sein dabei oft nicht gerade einfach. Aber es waren eigentlich genau diese Situationen, in denen ich schnell noch meine Frisur verbesserte und vortäuschte etwas anderes zu tun, die mir mein eigenes Social-Media-Nutzungsverhalten vor Augen führten. Fernab jeglicher Beauty-Filter und Bearbeitungsprogramme musste ich feststellen, dass auch ich dem Instagram-Algorithmus längst verfallen war und mir Bilder ohne strahlendes Lächeln, malerische Hintergründe oder spannende Ereignisse zutiefst unangenehm waren.
Doch nicht nur meine Social-Media-Realität war plötzlich eine andere, mein gesamter BeReal-Feed war voll mit der, zugegebenermaßen eher langweiligen, Alltagsrealität meiner Freund:innen. Die meisten Bilder zeigten Arbeitslaptops, den Einkaufswagen oder die Füße vor dem Fernseher. Im Kamerafokus der wenigen Urlaubsfotos, die mich erreichten, waren auch keine romantischen orange-rosanen Sonnenuntergänge zu sehen, sondern viel eher der scharlachrote Sonnenbrand und verschwitze Gesichter. Spannend war auch die neue Art der Selbstdarstellung, die mich auf BeReal erreichte. Denn wer versucht das Erlebte in der Rückkamera besonders gut aussehen zu lassen, erzielt äußerst unvorteilhafte Schnappschüsse mit der Frontkamera. Um diese tägliche unangenehme Situation zu überspielen, übertreiben viele User:innen. Statt sich der Realität geschlagen zu geben, zeigen sie witzige Grimassen, setzen ihr Doppelkinn beabsichtigt in Szene und spielen mit Humor. Dabei entsteht ein Feed mit lauter Bildern, die allesamt nie auf Instagram landen werden.
Doch was ist mein Fazit nach zwei Wochen der Realitätssuche?
Fazit: BeReal – Ja, aber…
Instagram, TikTok und andere sozialen Netzwerke stehen immer häufiger in der Kritik falsche Schönheitsideale zu vermitteln. Bevor Bilder gepostet werden, werden diese retuschiert, aufbelichtet und gefiltert, mit der Realität hat das oft nichts mehr zu tun. BeReal sieht sich deshalb als Gegenbewegung zu dem Standardkonzept aller sozialer Medien und möchte mit seiner einfachen Struktur für Veränderungen sorgen.
Das Endergebnis sind viele langweilige Bilder, die beweisen, dass das Leben längst nicht so bunt und spannend ist wie mancher Social-Media-Kanal, aber genau das ist das Ziel der App. Trotz der Positinggrenze von nur einem Bild pro Tag, gewährt BeReal, vor allem durch die Dualfunktion der Kamera, tiefere Einblicke in das Privatleben Anderer, als soziale Netzwerke, die eine unbegrenzte Feed und Story Option zur Verfügung stellen. Damit erfüllt BeReal zwar sein Grundziel, medienpädagogisch bleiben jedoch einige Kritikpunkte offen.
Kritik
Viel Kritik bietet vor allem der Zeitdruck, den die App auslöst. Nutzer:innen die innerhalb der zwei Minuten kein Bild hochladen, werden mit dem Stempel „late“ bestraft, den all ihre Freund:innen direkt auf dem Profil einsehen können. Mit nur einem Foto pro Tag, in einem Zeitfenster von zwei Minuten, sollte BeReal eigentlich nicht allzu viel Zeit in Anspruch nehmen. In Kombination mit der Unplanbarkeit der nächsten Posting-Phase, versetzt die enge Zeitspanne, zumindest mich und wie ich nach Gesprächen mit einigen anderen User:innen feststellte auch andere, unter zusätzlichen psychischen Druck. Dieser sorgt dafür, dass wir als Nutzer:innen unsere Wartezeit auf anderen Content-Plattformen verkürzen. Statt die aktive Mediennutzung zu verringern, steigert BeReal somit unsere Handyzeit und verleitet uns zu einem Anstieg des Konsums sozialer Medien.
Mit dem „late“-Stempel bestraft die App zudem bewusst die User:innen, die eine aktive Social-Media-Pause einlegen oder anderweitig beschäftigt sind. Um diesem sozialen Druck der App standzuhalten, überschreiten einige Benutzer:innen derweilen auch die Grenze des „postbaren“. In meinem Selbstversuch erreichte mich zum Beispiel das Bild einer Bekannten, die trotz Notfall vor der Notaufnahme posierte. Auch wenn BeReal uns zu einem ehrlicheren Umgang mit unseren Follower:innen verleiten möchte, sollte dabei nicht die Grenze der Privatsphäre überschritten werden, die gehört in der echten Realität nämlich auch dazu.
Abschließend bleibt es also fragwürdig, ob eine Handyapp wirklich dabei hilft „real zu sein“.
Weitere Tipps:
Inwiefern prägen soziale Medien die geltenden Schönheitsideale?